Neulich habe ich mit mehreren Menschen einen Mietvertrag abgeschlossen. Ich hatte sie immer nur mit Maske gesehen. Ein komisches Gefühl! Und was für eine Erleichterung, als ich sie dann später völlig entblößt (im Gesicht) betrachten konnte! Sie sahen, zwar anders als vermutet, aber sehr sympathisch aus.
©Dr. Romano Grohmann
Jeder, der eine gewisse Erfahrung mit Bewerbungsgesprächen hat, weiß es: Bewerber machen am Telefon in vielen Fällen einen ganz anderen Eindruck als im Online-Interview und performen in der persönlichen Begegnung dann u. U. wieder anders. Für einige Berufe kann man vielleicht auf den persönlichen Eindruck verzichten und Mitarbeiter*Innen nur nach „technischem Datenblatt“ in Verbindung mit einem Online-Interview einstellen. Wenn es aber auf die sozioemotionalen Kompetenzen ankommt, wie z.B.
in Führungs- und Vertriebspositionen, dann muss man das „elektromagnetische Feld“, die „Chemie“, die „Aura“ des Kandidaten spüren und persönlich erleben, um dessen Eignung beurteilen zu können. Zum Glück kann das persönliche Gespräch ohne Maske auch unter den Bedingungen des „Corona-Schutzes“ in einem genügend großen, gut gelüfteten Raum und mit einem Abstand von 1,50 m durchgeführt werden. Es sei denn die jeweilige Institution hat sich strengere Schutzmaßnahmen auferlegt. Allerdings ist die Anzahl der Gespräche möglichst niedrig zu halten und auf die Kandidaten in engster Auswahl zu begrenzen, was nebenbei bemerkt die Qualität des Auswahlprozesses einschränken kann. Schwierig wird es allerdings, wenn man sich außerhalb trifft, etwa in einem Hotel, das für Besprechungsteilnehmer, die nicht dort übernachten, keinen Raum anbieten will.
Gemeinsames Gehen fördert gemeinsame und entspannte Gedanken
Gehen fördert das Denken. Das weiß man schon seit der Antike. Also liegt es nahe, daß gemeinsames Gehen gedankliche Gemeinsamkeit fördert und Konfrontation tendenziell mindert. Allein schon deswegen, weil man sich nicht die ganze Zeit
frontal anschauen muß und Anspannungen über die Bewegung sublimieren kann. Man begibt sich ganz real gemeinsam auf einen Weg, in dessen Verlauf ein Gedankenaustausch darüber „beschritten“ wird, ob man zueinander passt oder nicht. Warum sollte man also den gemeinsamen Spaziergang nicht gezielt als methodisches Setting für Bewerbungsgespräche einsetzen? Auf jeden Fall ist so ein Bewerbungs-Spaziergang, wenn günstige Örtlichkeiten die ermöglichen, weitaus besser als sich in weiter Entfernung zueinander sitzend „anzubrüllen“ oder unter Mund-Nasen-Maskerade „hypoxisch anzunuscheln“.
Die Soziologin Stephanie Kernich bemerkt zum gemeinsamen Gehen als Interview-Methode folgendes: „Als Interviewform nutzt das Begehungsinterview die Umstände dieser Dynamik: Die Flüchtigkeit der Wahrnehmung während einer gemeinsamen Begehung erleichtert das Gespräch und die Bewegung stimuliert das Sprechen und Erzählen; der Spaziergang ist Basis eines intersubjektiv geteilten Erlebens. Diese gemeinsamen Erfahrungen bergen zusätzliches Gedanken und Austauschpotenzial. Deshalb mein Fazit: Man denkt beim Gehen nicht zwingend «besser», aber wenn man gehend im Gespräch unterwegs ist, regt das den Austausch sicherlich an…“
„Wir gehen mal `ne halbe Stunde und quatschen ein bißchen“ … So geht´s leider nicht!
Wie im Zitat erwähnt besteht im Spaziergang eine gewisse „Flüchtigkeit der Gedanken“, die durch Richtungswechsel und Ablenkungen wegen äußerer Einflüsse hervorgerufen werden können. Begibt man sich also auf einem Bewerbungsspaziergang in die Gefahr, den Faden und das Wesentliche aus den Augen zu verlieren? Das ist sicherlich gegeben, wenn man gemeinsam einfach mal so ziellos getrieben „umherwandelt“ oder auch dann, wenn die Strecke wie auf der Flucht dahingerast wird, dann sicherlich.
Das Setting des Bewerbungsspazierganges muß ähnlich wie ein strukturiertes Interview eine bei jedem Durchgang formal gleich ablaufende Testsituation sein, die eine Beurteilung der geforderten Kriterien und eine Vergleichbarkeit der Kandidaten untereinander gewährleistet. Weiterhin ist der Ablauf in Abstimmung auf die ausgewählte Örtlichkeit gut auszuwählen und vorzubereiten – der Görlitzer Park in Berlin, die Herbertstrasse in Hamburg sind weniger gut geeignet. Die Bestandteile sind einzelne Wegstrecken von jeweils 300 bis 700 Metern, die man im gemütlichen Schritt absolviert, und dazwischen drei bis sechs Besprechungspunkte, an denen man an- und innehält und „face to face“ bestimmte Fragen und Inhalte bearbeitet. Zum einen wechselt man also zwischen Bewegung und Anhalten und zum anderen wechselt man den Blick, der im Gehen auf ein gemeinsames Ziel und im Halt auf das dialogische Gegenüber gerichtet ist. Dies fördert den freien Austausch und das authentische Auftreten aller Beteiligten.
Auf folgende Punkte sollte hierbei ein besonderes Augenmerk gelegt werden:
- Bei der Auswahl des Ortes und der Wegstrecke auf Ruhe, Abgeschiedenheit, wenig Verkehr und Ablenkung achten. Ideal ist ein Rundweg von ca. 2 km für ca. 1 Std. Gespräch. Vorkehrungen für Ausweichmöglichkeiten sollten geschaffen werden, z.B. bei schlechtem Wetter.
- Festlegung von bestimmten Stationen (3 bis 6) am Ende der jeweiligen Streckenabschnitte, um inne zu halten und hier bestimmte Inhalte zu thematisieren – Fragen, Aufgaben, Rollenspiele, etc. Hierzu je nach Inhalt jeweils 5 bis 10 Minuten einplanen. Besonders geeignet hierzu sind natürlich Rastplätze, Pavillons, Bänke, etc.
- Idealerweise stellt man einen gewissen Bezug zwischen den Gesprächsinhalten einerseits und den örtlichen Gegebenheiten andererseits her. Beispieltext des Interviewers: „Wir gehen hier die leichte Steigung hinauf. Schildern Sie mir doch beim Hinaufgehen Ihren bisheriger Berufsweg. Dies war ja schließlich auch ein Aufstieg. Mich interessiert dabei, was Sie in den verschiedenen Funktionen bewegt, erreicht und gelernt haben. Wenn wir oben angekommen sind, haben wir einen wunderbaren Ausblick. Dort werden wir dann darüber sprechen, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist und welche Ziele Sie für Ihre beruflichen und privaten Zukunft haben.“