Die „Fehlabsage“, eine zu wenig thematisierter Fehler in der Personalauswahl

Fehlbesetzungen verursachen erhebliche Kosten.

Fehlabsagen können auch sehr teuer werden,
aber die bemerkt ja keiner!

 Aus der Reihe „Fachkräftemangel und Bewerberengpass – Analysen und Lösungen“

Das Thema Fehlbesetzung wird regelmäßig und zurecht von diversen Beratern und HR-Spezialisten als Problem im Auswahlverfahren diskutiert. Man spricht davon, dass bei Fach- und Führungskräften eine Fehlbesetzung unter Umständen das 10 bis 15 fache des Gehaltes des fehlbesetzten Mitarbeiters an Kosten verursachen kann. Je nach Führungsebene können die Schäden enorm sein, die eine Fehlbesetzung durch falsche Entscheidungen und inadäquates Führungsverhalten intern oder auf Kunden- und Lieferantenseite anrichten kann.

Die Fehlabsage, ein wenig bis gar nicht thematisiertes Phänomen

Aber was ist zur gegenteilig verlaufenden Fehlentscheidung zu sagen? Wenn also nicht der Falsche eingestellt, sondern fälschlicherweise die Person abgesagt wird, die eigentlich genau richtig gewesen wäre? Dieses Phänomen steht weniger oft im diskursiven Rampenlicht. Da es bislang keinen gängigen Begriff für dieses Phänomen gibt, bezeichne ich dieses Problem als die „Fehlabsage“. In Zeiten des Arbeitgebermarktes, wo dutzende gut qualifizierte Bewerber um eine Stelle konkurrieren, ist die Fehlabsage natürlich überhaupt kein Thema. Es warten schließlich genügend viele Arbeitslose vor den Werkstoren und man nimmt einfach den nächsten passenden und gut qualifizierten Arbeitsuchenden. 

Ganz anders sieht es im Bewerbermarkt und unter den Vorzeichen des Fachkräftemangels aus. Hier gibt es in vielen Fällen nur eine Handvoll qualifizierter Kandidaten für eine Stelle und oftmals nur ganz wenige, die wechselbereit sind und die das  suchende Unternehmen mit seinem Angebot gewinnen kann. Wenn unter diesen Bedingungen einer der ganz wenigen, die passen und interessiert sind, abgelehnt wird, kann es mit unter sehr lange dauern bis wieder ein heißer Kandidat „an Land gezogen“ und dann unter Vertrag genommen werden kann. Manchmal ist es gar nicht mehr möglich und die Stelle bleibt noch länger unbesetzt mit allen negativen Konsequenzen. Es werden wieder und wieder Suchschleifen durchgeführt und das alles erfordert Aufwand und produziert natürlich entsprechende Kosten. Oftmals sind Unternehmen auch gezwungen, von der ursprünglichen, idealen Stellenbesetzung abzuweichen und durch Umorganisation und Veränderung des Anforderungsprofiles alternative Lösungen zu finden. Verwunderlich ist es, dass das Thema Fehlabsage vor dem Hintergrund der engen Bewerbermärkte in vielen Segmenten so wenig diskutiert wird.


Aus den Augen, aus dem Sinn – die Fehlabsage

Bei der Fehlbesetzung wurde die Inkompetenz oder die mangelnde Passung des Kandidaten im Auswahlverfahren nicht erkannt, sondern erst nach der Einstellung, im Besten Falle noch in der Probezeit. Hier ist ganz offensichtlich etwas schief gelaufen und die falsche Besetzungsentscheidung ist in der Organisation sofort präsent. Man ist gewissermaßen dazu gezwungen, sich Gedanken darüber zu machen, welche Einschätzung aus welchem Grund falsch war und wie man es hätte
besser machen können. Dadurch besteht die Möglichkeit der Schuldzuweisung und besonders die Vertreter der HR-Abteilung scheuen die Risken der Fehlbesetzung wie der Teufel das Weihwasser, da dieser Fehler ihnen als erste aufs Brot geschmiert wird.

Bei der Fehlabsage hingegen wird das Problem einer falschen Besetzungsentscheidung – oder besser gesagt der falschen „Nicht-Besetzungs-Entscheidung“ – gar nicht als solches erkannt. Das Problem wird mit all seinen negativen Folgen gleichzeitig mit dem Ausscheiden des Kandidaten aus dem Prozess eliminiert. Der abgesagte Kandidat ist von der Bildfläche verschwunden und mit ihm auch das ursächliche Problem des Fehlers. Niemand wird danach fragen, wer für die falsche Einschätzung verantwortlich war. Eine der wenigen Möglichkeiten, bei denen die Fehlabsage als Fehlentscheidung und negative Folge für das Unternehmen spürbar wird und auch nicht zu leugnen ist, besteht dann, wenn der abgelehnte Kandidat später beim direkten Wettbewerb eingestellt wird und dort einen super Job macht. Ja dann wird schon einmal
nachgefragt: „Welcher Vollidiot hat den damals abgelehnt“.

Die Neigung vieler Personalentscheider erscheint vor diesem Hintergrund verstehbar. Weniger nach Potenzialen, sondern immer wieder das „Haar in der Suppe“ zu suchen, ist schließlich einfacher und sicherer. Frei nach dem Motto „Lieber alles absagen, aber Hauptsache keine Fehlbesetzung“, was unter den heutigen Bedingungen einer engen Bewerberlage fatal ist. Der Tendenz zur Fehlabsage muss also mit einem kräftigen Schuss quasi „wohlwollender Vertrauensseligkeit“
entgegengewirkt werden. Beide Momente, die positive optimistische Sichtweise auf die Kandidaten und die kritische Prüfung, sind wichtig. Die Aufgabe besteht darin, diese in einer gesunden Balance zu halten.


Gründe für Fehlabsagen und Lösungsmöglichkeiten

Wie jeder weiß, sind Personalauswahl und Besetzungsentscheidungen – insbesondere bei Führungskräften – ein schwieriges Thema. Es gibt hier keine Wundermethode, die alle Fehler ausschließt, auch wenn das der eine oder andere Verkäufer von Eignungsdiagnostische Produkten behaupten mag. Man kann das Problem nicht vollständig im Griff haben, sondern nur von mehreren Seiten her eindämmen und Risiken verringern. Die Themen und Punkte, wo im Auswahlverfahren Fehlabsagen entstehen, sind formal betrachtet die gleichen, wie bei den Fehleinstellungen, jedoch mit inhaltlich anderen Vorzeichen.

Im Folgenden werde ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige mir wichtig erscheinende Punkte aufführen und versuchen, hier Praxistipps zu geben.


Die Grundeinstellung der am Auswahlprozess Beteiligten

Einerseits sind Personalentscheider aufgerufen, kritisch zu prüfen, um Ungereimtheiten, Mängel der Persönlichkeit und Inkompetenz aufzudecken. In der Extremform führt dies Seite vermehrt zu Fehlabsagen. Andererseits muss ein wohlwollende Analyse gemacht werden, in der vom Positiven ausgegangen und Augenmerk auf besondere Fähigkeiten und Potenziale gelegt wird. In der Extremform führt diese Seite zu Fehleinstellungen. Beide Seiten sind jedoch wichtig und für jeden Personalentscheider ist es notwendig, einen Balanceakt zwischen kritischer Prüfung und positiver Willkommenskultur zu bewerkstelligen.

  • Prüfen sie sich deswegen selbst immer wieder, inwieweit und in welcher Situation die eine oder die andere Seite zu stark oder zu schwach in Ihnen aufkommt. Seien Sie sich der Notwendigkeit beider Seiten bewusst, um sowohl Fehleinstellungen, als auch Fehlabsagen zu vermeiden.
  • Analysieren Sie das Team derjenigen, die an der Personalentscheidung beteiligt sind. Achten Sie auf Ausgewogenheit zwischen Personen, die eher einer kritisch ablehnend sind und denen, die eher zu einer wohlwollend gutgläubigen Haltung neigen. Grundsätzlich sind einsame Entscheidungen zu vermeiden es sollten immer mehrere Personen in die Entscheidung involviert sein.

 

Prozesse und Struktur des Auswahlprozesses

Eine weitere Möglichkeit, um gleichermaßen einer überzogen kritischen und einer überzogen gutgläubigen Haltung entgegenzuwirken, liegt in der Gestaltung der Prozesse.

  • Fügen Sie im Verfahren Prozessschritte ein, in denen es nicht um Aussortieren der Ungeeigneten, sondern explizite um Erweiterung des Blicks auf Potenzialträger geht, auch wenn sie nicht alle formalen Kriterien voll erfüllen.
  • Führen Sie innerhalb der Struktur Ihres Such- und Auswahlprozesses geeignete Arbeitsmittel und Methoden ein, die zu einer gewissen Objektivierung der Urteile beitragen- z.B. strukturiertes Interview, Anforderungs-/Kompetenz-Matrix, Bewertungsbögen, Eignungsdiagnostische Settings (Psychometrische und andere Testverfahren, Rollenspiel, etc.)
  • Messen Sie in Ihrem Controlling die Anzahl der abgelehnten Bewerber und monitoren Sie die Ablehnungsgründe vom ersten Bewerbereingang bis hin zur Besetzung. Ziehen Sie dann Vergleiche dieser Kennzahlen zu den Besetzungsverfahren anderer Fachabteilungen.

 

Das Bewerbungsgespräch und seine Dynamik

Bewerbungsgespräche sind gewissermaßen Laborsituationen und sie entwickeln bisweilen eine eigentümliche Dynamik, manchmal in eine überzogen positive, aber öfter auch in eine überzogen negative Richtung. Als Beteiligter ist es nicht immer einfach, diese gruppendynamischen Strömungen zu erkennen oder gar diese zu lenken. An dieser Stelle folgende Tipps:

  • Bestimmen Sie jemanden, der die Aufgabe hat, die gruppendynamischen Prozesse im Auge zu behalten und bei destruktiven Verläufen gegen zu steuern. Vielleicht nehmen Sie eine geeignete Person aus einer Nachbarabteilung hinzu, die nicht direkt in den Vorgang involviert ist.
  • Bereiten Sie ein (teil)strukturiertes Interview so vor, dass ein bestimmter formaler Ablauf bestehend aus verschiedenen Abschnitten und Methoden festgelegt wird. Inhaltlich sollte jedoch, soweit die jeweilige Methode es erlaubt, eine möglichst große Offenheit herrschen.
  • Nehmen Sie sich als diejenigen, die die Bewerbungsgespräche führen, vor jedem einzelnen Kandidaten zumindest kurz Zeit, um sich gegenseitig auszutauschen und auf den Bewerber einzustellen. 
  • Lassen Sie nicht zu, dass jemand im ersten Teil des Gespräches an den Bewerber „fundamentalkritische oder konfrontative Fragen“ richtet. Ein Bewerbungsgespräch dient dazu, die Fähigkeiten und Potenziale zu erkennen. Viele Kandidaten, obwohl sie eigentlich sehr gut sind, kommen nach gewissen konfrontativen Situationen in der Anfangsphase nicht wieder „auf die Beine“. Der Zeitpunkt, durch kritische Fragen „am Lack zu kratzen“ darf erst im zweiten Teil des Interviews erfolgen.
  • Gestalten Sie alle Abläufe bis hin zum Absagemanagement und vor allem die Gespräche immer positiv, sodass das Tischtuch auch nach einer Absage nie zerschnitten wird. Sie brauchen keine Konfrontation, keine Belehrungen und keine massiv vorgetragene Kritik am Kandidaten, um beurteilen zu können, ob er oder sie passt oder nicht. Selbst dann, wenn Sie das Gefühl haben, angelogen zu werden oder wenn Sie aus anderen Gründen richtig sauer sind, sollten Sie sich folgende Vorgehensweise angewöhnen: Die fraglichen Punkte „leidenschaftslos“ ansprechen ohne Vorwürfe zu machen und freundlich absagen.

 

Authentizität

Sowohl auf Unternehmens-, als auch auf Bewerberseite liegt der Schlüssel zu einem zielführenden Austausch, zu angemessener gegenseitiger Beurteilung und zu richtiger Entscheidung in der Authentizität und in der Ehrlichkeit auf beiden Seiten. Man kann sich alle aufwendigen Beurteilungsmethoden und Auswahlverfahren sparen, wenn die kommunikative Situation im Auswahlverfahren so gestaltet wird, dass beiden Seiten Raum und die Notwendigkeit für Authentizität geschaffen wird. Wenn man authentisch weiß, was der andere fordert, was er bieten kann und will und schließlich wenn man „ungeschminkt“ erfährt unter welchen Umfeldbedingungen die Zusammenarbeit in der Arbeitspraxis stattfinden wird, dann bekommen beide Seiten schnell heraus, ob sie zueinander passen. Auf dieser Grundlage erfolgt Erfolg in Form von nachhaltig guten Entscheidungen auf beiden Seiten.

Allen PersonalverantwortlichenIch wünsche ich ein „gutes Händchen“ bei der Personalsuche und -auswahl. Ich hoffe, dass ich ein paar hilfreiche Anregungen geben konnte. Gerne unterstütze ich Sie bei Ihrem nächsten Besetzungs-Projekt. Kostenlose Beratung unter: grohmann@grohmannexecutive.com

Ihr Romano Grohmann

©Dr. Romano Grohmann 20.07.2023- alle Rechte beim Autor

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