Ausnahmezustand vorbei heißt für den Außendienst: Neustarten und Durchstarten – die Herausforderung für Vertriebsleiter*innen

„Die Zeiten des Vertriebsaußendienstes sind vorbei!“ – so der alarmierende Weckruf aus der Beraterecke, die auf digitale Vertriebsprozesse eingeschossen und auf digitalen Wandel spezialisiert ist und den Unternehmen weißmachen will, daß jetzt aber auch alles im Wesenskern total anders werden müsste. Natürlich gab es immer schon Waren und Dienstleistungen, die noch nie die persönliche Präsenz eines Verkäufers erforderten. Aber für den größten Teil der erklärungsbedürftigen Produkte und Dienstleistungen gilt, dass nichts die Vorführung und die Problemlösung vor Ort, das Ausprobieren unter Anleitung, das haptische Nutzen-Erlebnis, das persönliche Kundengespräch ersetzen kann.

Entwarnung – Außendienst wir brauchen Dich!

Selbst wenn einmal nur noch reine Maschinen einkaufen, bräuchte man immer noch Verkäufer aus Fleisch und Blut, die verstehen, was der Mensch gedacht hat, der die Maschinen programmierte. Aber zum Glück sind auf der Kundenseite immer noch richtige Menschen und soziale Wesen, die endlich auch wieder sehen, spüren und emotional erleben wollen, mit wem sie es auf der Lieferantenseite zu tun haben. Die Verkaufszahlen werden im Vergleich zu Online Shop und Digital-Vertrieb explodieren, so meine Prognose, wenn Kundenbesuche wieder unter normalen Bedingungen möglich sind. Mein Standpunkt lautet: es wird sich im Kern nichts Wesentliches im Vertrieb ändern. Außer, daß durch die digitalen Methoden und Werkzeuge zusätzliche, ganz exellente Möglichkeiten entstanden sind, um eine effizientere Akquise, eine automatisierte Kundenarbeit und eine vielschichtigere Beziehungsmanagement zu betreiben.

Natürlich wäre es deswegen falsch, den Schalter einfach wieder umzulegen in Richtung „wieder so wie früher“. Dieses durch die Umstände erzwungene Lernfeld „Kundenarbeit online“ hat doch immense Lern- und Kompetenzfortschritte im digitalen Vertrieb gebracht. Diese gilt es, aufrecht zu erhalten und mit den traditionellen Vertriebsmethoden da zu kombinieren, wo es sinnvoll ist. Jeder weiß es: Die Zielrichtung ist der „hybride Vertrieb“. Die Devise lautet also „tue das eine, ohne das andere zu lassen“. Für Menschen, die zum „Entweder-Oder-Denken“ neigen, kann das schwierig werden.

In den anderthalb Jahren Ausnahmezustand durch Homeoffice, AHA-Regeln und Kurzarbeit mußte der Außendienst sich in der neuen Situation zurechtfinden. Es wurden neue Techniken erlernt und etabliert, um Kundenarbeit, Leadgenerierung und Vertrieb per Telefon, Online-Meeting und über die Social Media Kanäle zu betreiben. Man hat sich in der „neuen Normalität“ – der eine mehr, der andere weniger gern – eingerichtet. Neben all den Veränderungen hat sich beim Vertriebsaußendienst teilweise aber auch ein „Einrichten in gewissen Schonräumen“ eingestellt. Schonräume, weil die Kontakt-, Verkaufs- und Marktmöglichkeiten eingeschränkt waren, also immer eine Entschuldigung da war für geringeren Vertriebserfolg. Ob berechtigt oder unberechtigt – wenn die Normalität wieder eintritt, wird dies wegfallen.

Für die allermeisten „Vertriebskanonen“ wird es eine Freude sein, wieder „on the road“ und vor Ort den Bedarf des Kunden zu inhalieren, zwischen den festen Terminen Kaltakquise durch „Walk In“ zu betreiben, auf Messeständen und Kongressen „Kundenohren abzukauen“. Aber es wird dann auch wieder ein anderer Druck herrschen in Beziehung auf Umsatz-, Kunden-, Kontaktziele. Und insbesondere diejenigen, die kurz vor der Pandemie eingestellt wurden, werden sich erst wieder einmal einfinden müssen. Die Vertriebsleitung kann nicht erwarten, dass sich alles auf Kommando auf hybriden Vertrieb umstellt und dann reibungslos an- und abläuft.

 

Wenn das gerade noch Neue in Kombination mit dem Alten zum ganz neuen Neuen wird

„Unsere Vertriebler sind so gut bezahlt, die machen einfach, was man ihnen sagt. Und wenn nicht, müssen wir einfach den Druck erhöhen“. So ähnlich, denke ich, wird die notwendige Umstellung in vielen Unternehmen gesehen werden. Meine folgenden Hinweise sind dagegen an Unternehmen und Vertriebsleitungen adressiert, die nicht nur Druck machen können, sondern sich auf einer höheren Stufe der Führung befinden. Die Initiierung und Begleitung dieses notwendigen Wandels ist als entscheidende Führungsaufgabe der Vertriebsleitung auf drei Ebenen anzugehen, wenn man Erfolg haben will:

  1. Die Sachebene:
    Unsere Entscheidungen basieren je nach thematischem Zusammenhang nur zu einem kleinen Teil auf Fakten und  rein verstandesmäßigen Reflexionen. Unsere wesentlichen Entscheidungsinstanzen sind im Unterbewußtsein verankerte Glaubenssätze, Emotionen und affektive Präferenzen. Wahre Meister sind wir allerdings darin,  eine nachgeschobene rationale Begründung für unsere „Stammhirnreflexe“ zu finden und zu vertreten, die „rein sachlogisch“ argumentiert. Dennoch braucht jeder Handlungsplan eine sachlogische auf Realitäten basierende Begründung, denn die Sachargumentation stellt einen wesentlichen Referenzrahmen für unser Denken und Tun ab. Wirkungsvoll verankert wird dieser, wenn deren Vermittlung nicht rein sachlich vorgetragen, sondern dramaturgisch aufbereitet wird. Ja manchmal fühlt der Mensch mit dem Kopf und denkt mit dem Bauch.

    Grundvoraussetzung ist also, dass ein vernünftiges Konzept erarbeitet werden und quasi als „Handbuch“ präsent sein muß, das die wesentlichen Leitlinien und Methoden der neuen Vertriebsweise schlüssig erläutert. Alles muß auf Fakten basieren und Sinn ergeben. Für Verkäufer sind hierbei zwei Signalrichtungen von Interesse: Erstens Informationen vom Kunden, dessen Bedarf und des Entscheidungsdispositionen. Zweitens Informationen, wie man mit weniger Aufwand mehr Verkaufserfolge erzielt. Lassen Sie Ihre Marketingabteilung die Fakten in Ihrem Markt und bei Ihrer Zielgruppe erheben und beziehen Sie die Verkäufer in diese Informationsgewinnung und in die Konzepterstellung ein.

  2. Praktische Ebene
    Gegenüber der am Anfang der Pandemie ungewohnten „digitalen Verkäufer-Identität“ ist mittlerweile eine gewisse Gewöhnung eingetreten, die manch einer vielleicht lieb gewonnen hat. Man steht schließlich nicht mehr so viel im Stau und muß weniger Hemden bügeln. Und es ist eben etwas anders und doch angenehmer, wenn man im Social Selling nachrichtlich eine Absage erhält, als von einem  hoffnungsvollen Interessenten  im Termin vor Ort persönlich abserviert zu werden.

    Nehmen Sie also Ihren Leuten nichts inzwischen Lieb-Gewonnenes weg, ohne etwas anderes anzubieten, was sie lieben lernen können. Aus sich selbst heraus und nicht, weil es in einem Handbuch steht. Die Kombination des Digitalen in Verbindung mit dem klassischen Vertrieb, in der von Ihnen ausgearbeiteten Konzeption muß faktisch entscheidende Vorteile gegenüber dem rein digitalen und dem klassischen haben. Und bitte vermitteln Sie dieses Neue und seine Vorteile nicht durch Vorträge und das Vorführen von Modellen. Lernen ohne Erfahrung ist schlechtes, unvollständiges Lernen. Schaffen Sie Lernfelder und Lernerlebnisse, in denen die Inhalte, Vorteile und Erfolge der neuen Arbeitsweise praktisch, konkret sowie emotional erlebbar und sozial teilbar gemacht werden. Hier sind Kombinationen aus Ausbildungen im Feld, spezifisch konzipierte Workshops, Mitfahrten und natürlich auch Einzelgespräche angesagt

  3. Ebene der Verhaltenswirksamkeit:
    Als Personalberater mit Schwerpunkt Vertrieb habe ich schon mit hunderten Verkäufern und Vertriebsleitern Bewerbungsgespräche geführt. Obwohl fast alle von ihnen mehrere Vertriebstrainings besucht hatten, war ein nicht unbeträchtlicher Teil in Sachen Vertriebstechnik erschreckend wenig sachkundig. Viele waren z.B. nicht in der Lage, die wesentlichen Phasen des Vertriebsgespräches zu nennen, geschweige denn zu erläutern, worauf es dabei ankommt. Irgendein Vertriebstrainer hatte ihnen etwas vorgekaut, sie haben alle interessiert mitgemacht, ein paar Rollenspiele durchgestanden, aber offensichtlich ist bei einem großen Teil für deren Praxis nicht viel hängen geblieben.

    Damit ein Training verhaltenswirksam werden kann, reicht es nicht aus, dass ein enger Praxisbezug in der Wissens- und Könnens-Vermittlung besteht. Ein Training muß auch tatsächlich in der Vertriebspraxis stattfinden; bzw. konsequent im Alltag eingeübt werden. Alles, was nicht gut eingeübt ist und schlecht von der Hand geht, macht keinen Spaß. Wir vermeiden und streichen es aus unserem Verhaltensrepertoire und es wird nie zur Gewohnheit werden. Viele klassische Vertriebswerkzeuge haben inzwischen wegen des Lockdowns Rost angesetzt. Geben Sie Ihren Leuten die Gelegenheit und unterstützen Sie sie durch konkrete Praxishilfen dabei, diese neue Konstellation hybrider Techniken über ein paar Monate einzuüben und diese damit zur Alltagsroutine werden zu lassen.

 

Ich wünsche allen Unternehmen und allen Vertriebsleitern, viel Erfolg und ein glückliches Händchen dabei, den Motor wieder anzuwerfen und durchzustarten. Über  Anregungen und Kommentare freue ich mich. Bitte einfach auf grohmann@grohmannexecutive.com zusenden. Vielen Dank!

Ihr Romano Grohmann

Alle Rechte beim Autor – Dr. Romano Grohmann©

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